Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin ist ein absoluter Klassiker. Orientierungslos unterliegt Franz Biberkopf den Versuchungen der Grossstadt Berlin. Heutzutage laufen verunsicherte, junge Männer Typen wie Andrew Tate in die Arme. Ein Vergleich.
Das ist kein Buch zum Geniessen, da muss man sich durchkämpfen. Die Herausforderung ist nicht, den Text inhaltlich zu verstehen, da kann man auch eine Zusammenfassung lesen. «Ich wünsche Ihnen, dass Sie es schaffen, sich durchzubeissen.» Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz, Fischer Klassik. Draussen scheint die Sonne, von vorne dröhnt eine Stimme. Ich lehne mich zurück, bequem ist anders. Die Strafe beginnt.
«Lassen sie sich von Berlin Alexanderplatz nicht in die Ecke drängen.» Verwirrend, viele haben inzwischen abgehängt. Was? Hä? Buch 1, 2, 3, 4, vorbei. Was passiert hier? «Diesen Gelben beobachtete Franz den ganzen Abend lang. Franz fühlte sich mächtig von ihm angezogen.» Nein Franz, hör auf mit Reinhold, das ist gefährlich. Bumm, der Hammer saust. Nein Franz, geh nicht zu Reinhold zurück, spinnst du, der Hammer wird wieder sausen. Bumm, bumm.
Was findet dieser Franz nur an Reinhold? Diese Frage ist zunächst kaum schlüssig zu beantworten. Die Beziehung zwischen Franz Biberkopf und Reinhold ist von Beginn an einseitig: Während Franz Reinhold bewundert, benutzt Reinhold Franz zu seinen Zwecken und verstösst ihn im Buch jedes Mal, sobald Franz für Reinhold nicht mehr von Nutzen ist.
Im Verlauf des Textes wird den Lesenden nahegelegt, dass Franz sich an Reinhold messen will. Dazu ist es wichtig zu wissen, dass Franz Biberkopf bis kurz vor Ende des Textes mit sich und der Welt kämpft. Er kommt in der Großstadt, die im Text als Symbol für Orientierungslosigkeit steht, nicht zurecht. Reinhold hingegen erscheint Franz als das Gegenteil: Aufgrund krimineller Aktivitäten (wie Franz erst etwas später erfährt) hat Reinhold meistens relativ viel Geld zur Verfügung und kommt zudem in der Frauenwelt trotz seiner äußeren Erscheinung gut an. Auch wenn Franz Biberkopf Reinholds Umgang mit Frauen nicht befürwortet, steht Reinhold für das, was Franz eigentlich gerne wäre – nämlich ein Mensch mit Geld und Anerkennung, der sein Leben vermeintlich selbst in der Hand hat. So wird Reinhold zu der Figur, an der sich Franz Biberkopf misst, er hält bis zum Ende stur an diesem Vorbild fest.
Dieses Phänomen der scheinbar unverständlichen Anziehung findet sich allerdings nicht nur in Berlin Alexanderplatz zwischen Franz Biberkopf und Reinhold. Misogyne Typen an der Grenze zur Kriminalität wie Andrew Tate finden heute in den sozialen Medien viel Zuspruch. Die Anbeter – bewusst nicht gegendert – sind meist junge, verunsicherte Männer. In vielen Fällen fühlen sich Tate-Anhänger vom Wandel der Rollenbilder und teilweise vom Feminismus bedroht und verunsichert. Dabei sind diese Anbeter durchaus vergleichbar mit Franz Biberkopf, der sich orientierungslos in Berlin bewegt: Sowohl die Anhänger von Andrew Tate als auch Biberkopf befinden sich in einer Welt, in der sie sich bedrängt und verunsichert fühlen und zuweilen orientierungslos sind.
Am Ende des Textes Berlin Alexanderplatz wird den Lesenden offenbart, dass der Grund für Franz' Scheitern sein Hochmut und seine Arroganz waren. Anhänger von Andrew Tate wollen zeigen, dass sie stark und männlich sind. Gewissermassen steigern sie sich in eine Vorstellung hinein, die sie nicht erfüllen können – ähnlich wie Franz Biberkopf.
Eine vermeintlich starke Figur wie Tate oder Reinhold wird in dieser Situation verlockend, weil sie ein Beispiel dafür darstellt, wie mit dieser Welt umgegangen werden kann. Dass dieser Umgang mit der Welt verachtend oder gar kriminell ist, stellt dabei kein Problem dar – oder ist sogar von Vorteil. Denn so können sich die verunsicherten Anbeter vorgaukeln, dass ihnen die Welt und die anderen Menschen nichts zu sagen haben und so ihr durch Unsicherheiten und Probleme ramponiertes Selbstvertrauen wiederherstellen.
Die spannende Frage ist nun, wie verhindert werden kann, dass Franz Biberköpfe kriminellen Typen wie Reinhold oder Andrew Tate in die Falle laufen. Es liegt an uns, eine Lösung für dieses Phänomen zu finden, denn Berlin Alexanderplatz gibt darauf keine Antwort. Die Frage, die ich mir hier stelle, ist, warum sich viele junge Männer von den sich verändernden Rollenbildern so bedroht fühlen. Vielleicht würde es sich lohnen zu überprüfen, ob Verunsicherung durch die sich wandelnden Rollenbilder tatsächlich die Ursache für die zahlreichen Tate-Anhänger ist. Und wenn ja, müsste man sich fragen, wie diese Verunsicherung gezielt bekämpft werden kann. Um zu verhindern, dass sich junge Männer im aktuellen Rollenwandel ebenso verlieren wie Franz Biberkopf in Berlin.