Vor Kurzem jährte sich die Befreiung von Auschwitz zum 80.Mal. Über die Wichtigkeit der Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse und wie wir uns an die Rolle der Schweiz in Bezug auf den Holocaust erinnern.
Beim Wort Holocaust denken die meisten Menschen an Nazi-Deutschland, Auschwitz und vielleicht Schindlers List. Der 2. Weltkrieg und insbesondere der Holocaust sind stark in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt und ist selbstverständlich Teil der Schulbildung. So habe ich mit meiner Klasse Erinnerungstexte von Holocaust-Überlebenden gelesen und anhand dieser Texte unter anderem diskutiert, welche Rolle die Erinnerungstexte an diese schrecklichen Taten in der heutigen Gesellschaft spielt. Im Rahmen dieser Diskussionen habe ich mich gefragt: Wie erinnern wir uns als Schweiz uns an unsere Rolle während des 2. Weltkriegs, insbesondere im Zusammenhang mit dem Holocaust?
Von Beginn weg war die zur Diskussion zugrunde liegende Prämisse, dass wir uns an den Holocaust erinnern müssen, um uns bewusst zu bleiben, welch Leid die Menschen einander antun und damit in Zukunft keine solche oder ähnliche Geschehnisse nochmals passieren werden. Dieser Prozess ist unangenehm, weil wir uns mit den Versäumnissen und Fehler weniger Generationen vor uns beschäftigen und uns hinterfragen müssen. Unsere Erinnerungen und unsere Vergangenheit sind meistens aber auch Teil unseres Selbstbildes. Aus diesem Grund ist die Beschäftigung mit den Fehler der Vergangenheit eben auch eine Beschäftigung mit unserem Selbstbild. Das erschwert diese Auseinandersetzung beträchtlich.
Da in diesen Jahren die letzten noch lebenden Zeitzeugen versterben, ist es allerdings umso wichtiger, dass wir unserer Vergangenheit bewusst bleiben. Allerdings ist die Zunahme an 'erinnerungsmüden' Menschen, d. h. Menschen, die sich nicht mehr mit dem Holocaust beschäftigen wollen oder diesen gar leugnen, spürbar. Diese Erinnerungsmüdigkeit erleichtert rechtsextremen Parteien wie der AfD oder der FPÖ den Aufstieg. Nationalsozialistische Parolen werden mehr und mehr toleriert oder gar begrüsst und so werden auch Hass und Diskriminierung unterstützt.
Unter diesen Prämissen haben wir in der Klasse besprochen, welche Funktionen Erinnerungstexte bei der Erinnerung haben. Dabei haben wir festgehalten, dass Erinnerungstexte im Gegensatz zu Zahlen deutlich nahbarer seien. Erinnerungstexte würden die emotionale Ebene stärker berühren, wodurch es den Lesenden schwerer falle, sich zu distanzieren. Zudem können man sich in Erinnerungstexten den Schrecken besser vorstellen und sich an Texte grundsätzlich besser erinnern. Trotzdem seien Zahlen alles andere als überflüssig. Denn während Erinnerungstexte die emotionale Ebene ansprechen und uns eine genauere Vorstellung der Ereignisse liefern würden, seien Zahlen wichtig, um das Ausmass der Geschehnisse zu zeigen.
Wir haben viel über die Erinnerung an den Holocaust in Deutschland diskutiert, da es in den meisten Erinnerungsstücken verständlicherweise vor allem um Ereignisse in Deutschland geht. Doch auch die Schweiz war im Zusammenhang mit dem Holocaust nicht unbeteiligt. Da stellte ich mir die Frage: Wie erinnern wir uns an die Rolle der Schweiz bezüglich des Holocaust?
Um diese Frage beantworten zu können, muss zuerst verstanden werden, welche Rolle die Schweiz im Zusammenhang mit dem Holocaust hatte: Auch wenn die Schweiz selbst nicht direkt für den Holocaust verantwortlich ist, so hatte sie doch indirekt Einfluss auf den Holocaust. Bereits im Jahre 1938 haben Schweizer Behörden Deutschland unter Hitler dazu veranlasst, jüdische Pässe mit dem bekannten roten «J» zu markieren, da die Schweiz jüdische Menschen nicht als politische Flüchtlinge anerkannte. Als 1942 immer mehr Jüdinnen und Juden in die Schweiz einreisen wollten, ordnete die Schweiz eine Grenzschliessung an, ehe im Sommer 1944 jüdische Personen als politische Flüchtlinge anerkannt wurden. Die Grenzschliessung 1942 erfolgte trotz des Wissens, dass jüdische Personen von Nazi-Deutschland verfolgt wurden. Als Rechtfertigung gaben die Schweizer Behörden an, dass die Schweiz bereits genügend Flüchtlinge aufgenommen habe und das Boot voll sei. Zudem wird die Schweiz heute mit dem Umgang von jüdischem Vermögen kritisiert, unter anderem für den Kauf von von Nazi-Deutschland gestohlenem, jüdischem Gold. (vgl. HLS DHS DSS)
Obwohl die Schweizer Bevölkerung also durchaus Anlass zu einer kritischen Hinterfragung der Rolle der Schweiz in Bezug auf den Holocaust gehabt hätte, fand in der Nachkriegszeit in der Schweiz so gut wie keine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit statt.
Erstmals wurde in den 1960er-Jahre eine kritische öffentliche Diskussion zur Schweizer Neutralitätspolitik im 2. Weltkrieg geführt. Dennoch dauerte es bis in die 90er-Jahre, bevor eine breite gesellschaftliche Diskussion um die Schweiz im 2. Weltkrieg in Rollen kam. 1996 wurde dann von Parlament die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK) geschaffen, die die Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg analysieren sollte. Der 2002 erschienene Bergier-Bericht – benannt nach dem Leiter der Kommission Jean-François Bergier – löste in der Schweiz zunächst heftige Diskussionen los: So warf die SVP der UEK vor, der Bericht sei anklägerisch. Tatsächlich beleuchtet der Bergier-Bericht die negativen Aspekte der Schweizer Politik während des 2. Weltkriegs kritisch und ehrlich. So steht im Bergier-Bericht zur Schweizer Flüchtlingspolitik: «Indem man aber die Grenzen zunehmend schloss, aufgegriffene Flüchtlinge ihren Verfolgern übergab und viel zu lange an restriktiven Prinzipien festhielt, wurden viele Menschen in den sicheren Tod getrieben. Damit trug die Schweiz dazu bei, dass die Nationalsozialisten ihre Ziele erreichen konnten» (UEK, S.526). (vgl. HLS DHS DSS und swissinfo.ch)
"Indem man aber die Grenzen zunehmend schloss, aufgegriffene Flüchtlinge ihren Verfolgern übergab und viel zu lange an restriktiven Prinzipien festhielt, wurden viele Menschen in den sicheren Tod getrieben. Damit trug die Schweiz dazu bei, dass die Nationalsozialisten ihre Ziele erreichen konnten." UEK, S.526
Die damalige Aufarbeitung der Schweizer Geschichte kommentiert der Bergier-Bericht folgendermassen: «Dass die Schweiz am Anfang dieser Debatten stand, veranlasste – wenig überraschend – viele Schweizer zu der Frage, weshalb gerade ihr Land zur Zielscheibe der Kritik wurde, da es doch keine Diktatur und keinen gewalttätigen Antisemitismus gekannt hatte und nicht an Deportationen beteiligt gewesen war» (UEK, S.517f).
Eine mögliche Erklärung für die Kritik ist, dass die Ergebnisse dem mehrheitlich von rechts propagierten Bild der Schweiz als unabhängiges, gerechtes und humanitäres Land widersprechen. Dies ist im Bericht selber auch erwähnt: «[Die verschärfte Ausländer- und Flüchtlingspolitik] … steht in Kontrast zum Bild, das die Schweiz seit dem 19. Jahrhundert in einer humanitären Tradition darstellt – einer Tradition, die sich im schweizerischen Selbstverständnis verankerte und auch dazu geeignet war, die Neutralität moralisch zu legitimieren» (UEK, S.523).
Nach der anfänglichen Kritik sind die Ergebnisse aus dem Bergier-Bericht heute weitestgehend akzeptiert. Trotzdem stellt sich noch die Frage, wie die Schweizer Bevölkerung mit dieser Vergangenheit umgeht. Die folgenden Abschnitte widerspiegeln meine persönlichen Eindrücke und Meinungen.
Grundsätzlich nehme ich die öffentliche Meinung zur Rolle im 2. Weltkrieg als tendenziell kritisch wahr. Allerdings stelle ich auch fest, dass das Wissen zur Rolle der Schweiz – zumindest bei mir und in meinem Umfeld – begrenzt ist. In groben Zügen ist noch bekannt, dass die Schweiz nur wenige Flüchtlinge aufgenommen oder jüdisches Gold und Geld gekauft hat. Detailliertes Wissen ist allerdings kaum verbreitet. Dazu passt auch, dass im Lehrplan 21 des Kantons Bern die Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg auf Sekundarstufe 1 zumindest nicht explizit erwähnt. Erwähnt ist lediglich, dass die Schülerinnen und Schüler Phänomene aus dem 20. Jahrhundert analysieren und deren Relevanz aufzeigen und die Rolle der Schweiz in Europa kennen sollten. Tatsächlich haben nicht alle meine Kolleginnen und Kollegen die Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg auf Sekundarstufe 1 thematisiert. Dies ist ein Versäumnis, das meines Erachtens verhindert werden muss, da historisches Wissen jegliche Grundlage für eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit bildet. (vgl. Kanton Bern, Lehrplan 21)
Weiter habe ich den Eindruck, dass trotz weitgehender Akzeptanz der Schweizer Rolle im 2. Weltkrieg ein gewisser Wunsch besteht, diese Rolle möge doch nicht so schlimm gewesen sein. Diesen Eindruck mache ich hauptsächlich daran fest, dass in mehr oder weniger regelmässigen Abständen diskutiert wird, wie viele jüdische Personen die Schweiz denn tatsächlich abgewiesen habe. Auch wenn die im Raum stehenden Differenzen nicht unbeträchtlich sind, so ändert das doch nichts an der von Schweizer Behörden veranlassten Kennzeichnung in jüdischen Pässen, der Grenzschliessung oder dem Kauf von jüdischem Gold. Vielmehr – so mein Eindruck – geht es bei diesen Diskussionen um den Versuch, das Selbstbild der humanitären Schweiz auch für die vielleicht grösste Tragödie der Geschichte aufrechtzuerhalten. Zudem flüchten viele Schweizer und Schweizerinnen nach wie vor in die Argumentation, dass die Schweiz keine andere Wahl gehabt hätte, als so zu handeln wie sie es denn getan hat.
Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass sich die Schweiz inzwischen nach längerem Zaudern mit ihrer Rolle im 2. Weltkrieg beschäftigt und auch die negativen Aspekte weitestgehend akzeptiert hat. Trotzdem bin ich der Meinung, dass gerade in der Schulbildung noch ein stärkerer Fokus auf die Aufarbeitung der Vergangenheit gelegt werden könnte.